Zwangsbehandlung bei einem Hungerstreik

Aktuellen Berichten zufolge wurde die antifaschistische Person Maja, die vor über einem Jahr rechtswidrig nach Ungarn ausgeliefert wurde und seitdem regelmäßiger Folter ausgesetzt ist, aufgrund ihres Hungerstreiks inzwischen in ein Haftkrankenhaus verlegt. Es ist der 32 Tag des Hungerstreiks. Laut Unterstützer*innen wurden nun Augenbewegungsstörungen beobachtet, sodass von einem Eintritt in die „okuläre Phase“ des Hungerstreiks auszugehen ist (mehr Einzelheiten zu den Hungerphasen in unserem Post vom 25. Juni). Damit ist davon auszugehen, dass ein akut lebensbedrohlicher Zustand Majas erreicht ist.

Laut Berichten erklärten die Ärzt*innen des ungarischen Haftkrankenhauses, dass sie sich nicht an die Patient*innenverfügung Majas gebunden fühlen, die eine Zwangsernährung explizit ausschließe. Wir wollen dies im Folgenden einordnen:

Immer wieder kommt es weltweit vor allem bei hungerstreikenden Gefangenen zu Zwangsernährungen. Damit wird Häftlingen, die in der Wahl ihrer Protestmöglichkeiten bereits sehr eingeschränkt sind, auch das letzte Mittel des Protestes, z.B. gegen die Haftzustände, und die Kontrolle über ihren eigenen Körper genommen.

Die Medizin kennt weltweit ein klares Prinzip der Entscheidungsfindung, welches sich „Informed Consent“ nennt. Dabei treffen nicht Mediziner*innen die Entscheidung selbst, sondern sie informieren ihre Patient*innen über alle Möglichkeiten und Risiken, sodass diese selbst über ihren Körper eine fundierte Entscheidung treffen können. Natürlich hat dies Grenzen, wenn z.B. eine Person bewusstlos ist. In diesem Fall muss nach dem mutmaßlichen Willen der Person gehandelt werden. Bei der Ermittlung dieses Willens können zum Beispiel Patient*innenverfügungen, bevollmächtigte Personen und Angehörige helfen. Ebenso gibt es Ausnahmen für Zustände, in denen Patient*innen aufgrund ihres kognitiven Zustands nicht mehr für sich selbst Entscheidungen treffen können oder andere Gefährden, z.B. aufgrund einer psychischen Erkrankung oder bei Kindern. Eine weitere Grenze ist, dass natürlich kein*e Mediziner*in gezwungen ist medizinisch sinnlose Maßnahmen durchzuführen, nur weil ein*e Patient*in dies unbedingt wünscht.

Auch bei einem Hungerstreik hat dieses Prinzip uneingeschränkt Anwendung zu finden, sodass die hungerstreikende Person selbst über ihren Körper entscheiden kann. Damit eine rechtssicheren Dokumentation über den Willen der hungerstreikenden Person bei allen Eventualitäten vorliegt, empfehlen wir daher nach Möglichkeit frühzeitig eine Kontaktaufnahme zu solidarischen Mediziner*innen, die den Hungerstreik betreuen können.

Zwangsbehandlungen, insbesondere Zwangsernährungen, bei Hungerstreikenden stehen somit in einem fundamentalen Gegensatz zu Grundprinzip des „Informed Consent“ und widersprechen den Regeln der ärztlichen Kunst. Dass sie trotzdem immer wieder unter ärztlicher Beteiligung bis heute stattfinden, veranlasste den Weltärztebund (World Medical Assocation – WMA) schon mehrfach zu klaren Stellungnahmen, die weltweit allen Ärzt*innen Zwangsbehandlungen von Hungerstreikenden untersagen. Nachdem bereits 1975 in der Deklaration von Tokio Ärzt*innen jegliche Beteiligung an Folter und Erniedrigungen untersagt wurde, zu der der Ärztbund auch klar die Zwangsernährung zählt, stellte die Deklaration von Malta 1991 ausführliche Regelungen zur medizinischen Behandlung von Hungerstreikenden auf, die aufgrund anhaltender, verbotener Zwangsernährungen wiederholt überarbeitet und verschärft wurde. In der aktuellen Fassung heißt es u.a.:
„All kinds of interventions for enteral or parenteral feeding against the will of the mentally competent hunger striker are “to be considered as “forced feeding”. Forced feeding is never ethically acceptable. Even if intended to benefit, feeding accompanied by threats, coercion, force or use of physical restraints is a form of inhuman and degrading treatment. Equally unacceptable is the forced feeding of some detainees in order to intimidate or coerce other hunger strikers to stop fasting.“

Der Weltärztbund besteht aus 115 Berufsverbänden von Ärzt*innen auf der ganzen Welt. Seine Deklarationen sind bindend für seine Mitglieder und die Ärzt*innen in den jeweiligen Ländern. Für Deutschland ist die Bundesärztekammer Mitglied der WMA, ebenso wie es die ungarische Ärztekammer (Magyar Orvosi Kamara) ist. Diese hat jedoch im Gegensatz zur deutschen Ärztekammer nur wenig Befugnisse und Einflussmöglichkeiten. Eine Selbstverwaltung der Ärzt*innen mit Disziplinarmöglichkeiten wie in Deutschland gibt es in Ungarn nicht. Dadurch ist es Behörden in Ungarn eher möglich Einfluss auf ärztliche Entscheidungen zu nehmen und somit Behandlungen durchzusetzen, die der ärztlichen Kunst und den Menschenrechten widersprechen. Dass es auch anders geht, zeigt beispielhaft ein Fall von 2010, bei dem ein Gericht in der Schweiz eine Zwangsernährung bei einem Hungerstreik anordnente. Damals weigerten sich die zuständigen Ärzt*innen mit Verweis auf die Regelungen der schweizer Ärzt*innenschaft, die auf der Deklaration von Malta beruhen, die Zwangsernährung durchzuführen.


Maja: 21 Tage Hungerstreik – Was bedeutet das für den Körper?

Im Juni 2024 lieferte Deutschland rechtswidrig die antifaschistische Person Maja nach Ungarn aus, obwohl ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig war, das diese Auslieferung kurze Zeit später untersagte. Trotzdem sitzt Maja seither in Ungarn unter miserablen hygienischen Zuständen in Isolationshaft, was die Definition von Folter erfüllt. Seit 21 Tagen ist Maja nun im  Hungerstreik und fordert eine Verbesserung dieser Situation.

Da dieser Justizskandal aktuell in aller Munde ist, wollen wir im Folgenden die medizinischen Aspekte eines Hungerstreiks kurz erläutern. Was bedeutet dieser für den Körper? Was geht in ihm vor und ab wann wird es gefährlich?

1.) Typen des Nahrungsmangels
Je nachdem, was bei einem Hungerstreik noch zu sich genommen wird, werden verschiedene Typen unterschieden:
– Bei der teilweisen Nahrungskarenz werden einige Nährstoffe, Spurenelemente, etc. noch zugeführt. Dies können z.B. Vitamine oder Elektrolyte, aber auch Zucker sein. Was zu sich genommen wird, liegt in der Entscheidung der Hungerstreikenden Person. Je nachdem, welche Stoffe der Körper noch bekommt, hält er einen Hungerstreik länger durch und Organschäden oder der Tod treten später auf. Aus medizinischer Sicht sind gerade Vitamin B1 und Elektrolyte wichtig um gesundheitliche Schäden durch den Hungerstreik zu minimieren.
– Bei der vollständigen Nahrungskarenz wird durch die hungerstreikende Person ausschließlich Wasser zu sich genommen. Der Körper stellt vollständig auf einen Hungerstoffwechsel um, den wir euch im Folgenden näher erklären werden.
– Beim trocknen Hungerstreik wird auch keine Flüssigkeit mehr zugeführt. Dadurch treten Symptome deutlich schneller auf. Es kommt innerhalb von 3 bis 4 Tagen ohne komplette Umstellung auf einen Hungerstoffwechsel zu Tod.

2.) Der Hungerstoffwechsel
Beim Hungerstoffwechsel kommt es zu einer Reihe von hormonellen Veränderungen im menschlichen Körper mit dem Ziel die Stoffwechselaktivität zu reduzieren (z.B. durch weniger Schilddrüsenhormone), die Nahrungsaufnahme zu fördern (z.B. durch Steigerung des Hungerhormons Ghrelin und Abnahme des Sättigungshormons Leptin) und Energiereserven des Körpers zu mobilisieren (z.B. durch Abnahme des Insulinspiegels und Steigerung des Hormons Glukagon für den Kohlenhydratabbau).

Zunächst überwiegt der Abbau von Kohlenhydratreserven (Glykogen) aus Leber, Nieren und Muskeln. Diese Reserven sind nach 1 bis 2 Tagen aufgebraucht.

Gleichzeitig beginnt nach und nach ein zunehmender Abbau der Fettreserven, die zu Ketonkörpern als Energieträger umgebaut werden. Dies führt zu einem typischen Acetongeruch beim Ausatmen und einer zunehmenden Übersäuerung des Blutes. Manche Gewebe, wie das Gehirn, können Ketonkörper erst nach einer Umgewöhnungsphase als Energieträger nutzen und sich zuvor auf Glucose angewiesen.

Außerdem baut der Körper vor allem aus der Muskulatur Proteine ab und wandelt diese in Glucose um. Dieser Abbau findet zunächst mit ca. 50 bis 70g pro Tag schneller statt und nimmt im Verlauf ab, sodass nach 2 Wochen noch ca. 20 bis 25g pro Tag abgebaut werden. Um diesen Abbau zu verlangsamen, sollten Hungerstreikende ein leichtes Bewegungstraining absolvieren. Ein Aufbrauchen von 30 bis 50% des Körpereiweiß sind tödlich.

3.) Die Hungerphasen
Wie lange der menschliche Körper eine Nahrungskarenz überstehen kann, ist individuell sehr unterschiedlich und hängt von vielen Faktoren, z.B. von der körperlichen Konstitution, Vorerkrankungen und Alter, ab. Dies ist einer der Gründe, warum eine medizinische Beratung und anschließende Betreuung durch solidarische Mediziner*innen vor einem Hungerstreik unerlässlich ist, soweit es die Bedingungen zulassen.

Der folgende Verlauf ist typisch, aber kann individuell zeitlich sehr variieren:

Tag 1 bis 3:
Man verspürt ein zunehmendes Hungergefühl, Magenkrämpfe und der Blutzuckerspiegel sinkt. Der Energiebedarf wird durch hauptsächlich Kohlenhydratreserven gedeckt.

Tag 4 bis 13:
Es kommt zu einem spürbaren Gewichtsverlust durch den Abbau von Fett- und Proteinreserven. Durch Verschiebung der Elektrolyte aus den Zellen bleiben die Elektrolytspiegel noch weitgehend konstant. Der Stoffwechsel reduziert sich.

Tag 14 bis 34:
Der Gewichtsverlust setzt sich nun langsamer fort. Die Muskulatur ist bereits deutlich abgebaut. Das Blut übersäuert nach und nach durch die anfallenden Ketonkörper. Normal ist ein PH-Wert zwischen  7,35 und 7,45. Bei weniger als 7,35 spricht man von einer Azidose (Übersäuerung). Spätestens ein PH von 6,8 ist nicht mehr mit dem Leben vereinbar. Es beginnt ein Vitamin B1 Mangel. Vitamin B1, auch Thiamin genannt, wird im Körper zu einem Coenzym verstoffwechselt, welches für die Funktion verschiedener Enzyme unerlässlich ist. Bei einem Mangel kommt es vor allem zu neurologischen Ausfallerscheinungen. Es kann aber auch die Funktion des Herz-Kreislauf-Systems und die Psyche beeinträchtigt werden. Diese Phase wird u.a. durch Müdigkeit, Schwindel, Durchfall, Wassereinlagerungen, Kältegefühl und Bewegungsstörungen symptomatisch. Puls und Blutdruck reduzieren sich.

Tag 35 bis 42:
Diese sogenannte „okuläre Phase“ fällt aufgrund des zunehmenden Vitamin B1 Mangels vor allem durch Symptome der Augen auf. Es kommt zu Sehstörungen, Doppelbildern, Schielen und anderen Bewegungsstörungen der Augen. Hinzu kommen weitere neurologische Symptome, u.a. Übelkeit und Erbrechen, sowie Schluckstörungen. Spätestens jetzt ist ein lebensgefährlicher Zustand erreicht. Durch zunehmende Konzentrationsschwäche und den Verlust des Urteilsvermögens kann  die hungerstreikende Person keine Entscheidungen mehr für sich selbst treffen. Wir empfehlen daher frühzeitig zusammen solidarischen Mediziner*innen den Willen der Hungerstreikenden Person schriftlich zu fixieren, damit medizinisches Personal rechtssicher im Sinne der betroffenen Person Entscheidungen fällen kann. Dies ist nur so lange möglich, wie die Person vollständig zurechnungsfähig ist und sollte daher nicht zu spät erfolgen.

Ab Tag 43:
Nun beginnt die Sterbephase. Dabei kann die genaue Todesursache unterschiedlich sein. Beispielsweise kann es aufgrund des zunehmend geschwächten Immunsystems zu einer schweren Blutvergiftung (Sepsis) kommen, die vom Körper nicht mehr bewältigt werden kann. Bereits vor dieser Phase ist das Immunsystem nicht mehr in gleicher Weise leistungsfähig. Daher sollte um Umgang mit Hungerstreikenden auf eine ausreichende Hygiene und das Tragen einer Maske geachtet werden. Durch die fehlende Energie bricht mit der Zeit aber auch ohne Infektion das Herz-Kreislauf-System zusammen, oft begleitet von Herzrhythmusstörungen, oder es kommt zu einem Multiorganversagen.

4.) Das Refeeding Syndrom
Es erscheint zunächst total unintuitiv, aber Essen nach einem Hungerstreik kann sehr gefährlich sein! Bei vorerkrankten, untergewichtigen oder geschwächten Personen kann es bereits ab dem 5. Tag eines Hungerstreiks bei Nahrungsaufnahme zu einem sogenannten Refeeding Syndrom (RFS) kommen. Ansonsten ist ab dem 10. Tag damit zu rechnen.

Beim Refeeding Syndrom führt die Nahrungsaufnahme zu einer Fehlregulierung von Hormonen und Stoffwechsel. Der plötzlich Anstieg des Blutzuckers sorgt z.B. für eine Ausschüttung von Insulin, das u.a. auch die Aufnahme von Elektrolyten in die Zellen fördert und so den Elektrolytmangel verstärken kann. Ein weiterer Mechanismus ist das Aufbrauchen von Co-Faktoren, wie Vitaminen, wenn der Körper zu schnell wieder auf einen anabolen (aufbauenden) Stoffwechsel umstellt. Diese und weitere Mechanismen können je nach auftretendem Mangel zu vielen unterschiedlichen Symptomen führen, die teilweise lebensgefährlich sein können.

Entsprechend muss nach einem Hungerstreik die Nahrungsaufnahme z.B. über eine Woche hinweg langsam gesteigert werden, um einem Refeeding Syndrom vorzubeugen. Oft ist dies bei einem fortgeschrittenen Hungerstreik nur noch unter klinischen Bedingungen sicher umsetzbar, da es z.B. Laborkontrollen bedarf, um ein Refeeding Syndrom frühzeitig zu erkennen. Tritt ein Refeeding Syndrom auf, so ist i.d.R. eine intensivmedizinische Therapie unumgänglich.

5.) Mehr erfahren
Auf unserer Webseite findet ihr eine Seite mit weiteren Informationen zum Thema Hungerstreik. Diese beschäftigt sich vor allem damit, was vor, während und nach einem Hungerstreik zu beachten ist : https://demosanitaeter.com/hungerstreik/

Für medizinisches Fachpersonal hat der Verein Demokratischer Ärzt*innen (VDÄÄ*) einen Reader herausgebracht, den wir, auch wenn schon 2014 erschienen, sehr empfehlen können:
https://www.vdaeae.de/wp-content/uploads/2014/12/vdaeae_Hungerstreik_Reader_2014.pdf

In der Deklaration von Malta aus dem Jahr 1991 hat der Weltärztebund außerdem Regeln für die Behandlung von Hungerstreikenden festgelegt.

Wenn ihr mehr über Maja erfahren wollt, dann findet ihr hier einige Informationen: https://www.basc.news/maja/

Wir wünschen Maja viel Kraft in dieser schweren Zeit.

Alle Angaben ohne Gewähr. Dieser Artikel ersetzt keine ärztliche Aufklärung vor einem Hungerstreik.