Demosanitätsdienste

Revolutionäre 1. Mai Demonstration Stuttgart 2017

(Bildquelle: Andreas Scheffel)

Die Sanitätsgruppe Süd-West e.V. hat es sich primär zur Aufgabe gemacht, die medizinische Versorgung auf Versammlungen nach Versammlungsgesetz (Demonstrationen und Kundgebungen) in solidarischer Weise sicherzustellen, damit jede*r das Recht auf Versammlungsfreiheit möglichst gefahrlos wahrnehmen kann.

Ihr benötigt einen Sanitätsdienst für eine Versammlung? Dann könnt ihr uns hier anfragen. Mehr zu stationären Sanitätsdiensten bei Protestcamps und Kulturveranstaltungen findet ihr hier.

Fachdienst für Sanitätsdienste auf Demonstrationen

Die notfallmedizinische Absicherung einer Demonstration ist kein Sanitätsdienst wie jeder andere. Überall dort, wo viele Menschen aufeinander treffen und sich körperlich betätigen steigt die Notwendigkeit einer medizinischen Betreuung. Versammlungen stellen besonders im Hinblick auf ihre Mobilität, das erhöhte Konfliktpotential, hohes Patient*innenaufkommen in kurzer Zeit und die sich schnell ändernde Lage hohe Ansprüche an den Sanitätsdienst. Dabei kann es sowohl bei körperlichen Auseinandersetzungen, als auch bei einer länger andauernden Demonstration mit vielen älteren Teilnehmer*innen in der prallen Sonne zu höheren Patient*innenzahlen kommen. Anders als bei sonstigen Veranstaltungen besteht auf Versammlungen für die Veranstalter*innen jedoch keine Pflicht zur Stellung eines Sanitätsdienstes, da durch teure Sanitätsdienste, die sich nicht jede*r Veranstalter*in leisten kann, das verfassungsmäßig garantierte Versammlungsrecht unverhältnismäßig eingeschränkt würde. Dass das Gefahrenpotential einen Sanitätsdienst trotz der rechtlichen Situation notwendig macht, steht aber außer Frage. Wir sehen uns als Fachdienst, der sich auf die besonderen Situationen im Versammlungskontext spezialisiert hat und diese Lücke schließt.

Anti-Atom-Proteste gegen Castor-Transport Biblis 2020

Die Eigenschutzkonzepte des öffentlichen Rettungsdienstes sehen vor, dass die Rettung von Verletzten aus Gefahrenbereichen von der Polizei (Gewaltsituationen) oder Feuerwehr (sonstige Gefahren) übernommen wird. Rettungs- und Sanitätsdienst halten sich dabei klassisch außerhalb der Gefahrenbereiche und damit weit weg möglicher Patient*innen auf oder müssen erst anfahren und könne dann ohne Spezialisierung die Lage nur wenig einschätzen. Bei Versammlungen ist die Polizei allerdings regelmäßig als eine von mehreren Konfliktparteien an den Auseinandersetzung beteiligt und kann erfahrungsgemäß dieser Aufgabe nicht der Notwendigkeit entsprechend nachkommen. Gleichzeitig fehlt vielen Verletzten anderer Konfliktparteien das notwendige Vertrauen um bei der Polizei Hilfe zu suchen, nicht zuletzt wegen der üblichen Prioritätensetzung zu Gunsten von Festnahmen und Beweissicherung.

Wir sind der Ansicht, dass jedem Menschen ein uneingeschränkter Zugang zu einer medizinischen Versorgung zustehen sollte und halten dies für ein unantastbares Menschenrecht, das nicht durch andere Interessen, z.B. die Strafverfolgung, eingeschränkt werden darf.

Unsere Arbeit auf Demonstrationen findet oft in den Bereichen statt, wo für andere Sanitäter*innen der Eigenschutz längst begonnen hat. Durch unsere spezialisierte Ausbildung lernen unsere Einsatzkräfte die Situationen im Versammlungskontext einzuschätzen und Gefahren frühzeitig zu erkennen. So erreichen wir eine Verschiebung der Grenzen unseres individuellen Gefahrenbereichs (nicht mehr das gesamte Demonstrationsumfeld, sondern einzelne Bereiche) und können vor Ort auch während Auseinandersetzungen medizinische Hilfe leisten. Dabei können wir das Risiko selbst verletzt zu werden zwar effektiv minimieren, aber natürlich nicht komplett ausschließen. Während unserer Einsätze sind wir stets um Deeskalation und professionelles Auftreten bemüht.

Proteste gegen NATO Sicherheitskonferenz München 2019

Als Sanitätsdienst der jeweiligen Versammlung ist unsere Hauptaufgabe die medizinische Versorgung der Teilnehmer*innen. Bei Notwendigkeit behandeln wir aber selbstverständlich jede Person, die medizinischer Hilfe bedarf. Zum Schutz der Identität unserer Patient*innen und im Interesse einer vertrauensvollen Behandlungsbeziehung fertigen wir nur in Ausnahmefällen Dokumente über personenbezogene Daten an, wenn dies für die medizinische Weiterbehandlung oder unsere rechtliche Absicherung zwingend erforderlich ist.

Ist eine Dokumentation unerlässlich, so legen wir besonderen Wert auf die Sicherheit unserer Patient*innen und erheben und dokumentieren keinerlei Informationen, die diese rechtlich gefährden könnten. Dabei ist uns bewusst, dass eine Übergabe an den öffentlichen Rettungsdienst bei schweren Verletzungen oder Erkrankungen oft unumgänglich ist.


Einsatzplanung und -leitung im Demosanitätsdienst

Der Erfolg eines Einsatzes wird maßgeblich durch die im Vorfeld geleistete Einsatzplanung beeinflusst. Dabei stellt einen die Planung der notfallmedizinsche Betreuung von Versammlung vor spezielle Herausforderungen. Auch mit langjährigen Erfahrungswerten lassen sich Demonstrationsgeschehen im Vorfeld nur schwer einschätzen. Ob eine Demonstration einen weitgehend friedlichen Verlauf nimmt oder es zu Auseinandersetzungen kommt, ist oft zuvor nur schwer vorher zu sagen. Auch die Zahl der Teilnehmer*innen kann erheblich von den vorher angekündigten Zahlen abweichen.

Proteste gegen AfD Demonstration Stuttgart 2020

(Bildquelle: Alfred Denzinger, Beobachter News)

Bei den ständig wechselnden Anforderungen der verschiedenen Aktionsformen ist eine gute Vernetzung mit allen beteiligten Strukturen notwendig. Deshalb sind uns Absprachen mit Veranstalter*innen und Anmelder*innen besonders wichtig. Außerdem werden alle Einsätze bei der zuständigen Rettungsleitstelle angemeldet. Bei größeren Versammlungen kommen bei Bedarf Kooperationsgespräche mit Verantwortlichen des Rettungsdienstes und des Katastrophenschutzes hinzu. Anhand der zusammengetragenen Informationen wird von uns die Gefahrenlage eingeschätzt und ein Einsatzkonzept mit Einsatzkarten erstellt, welches den zu erwartenden Begebenheiten entspricht.

Ein einsatzleitendes Team, welches sich selbst im Geschehen befindet und dieses somit einschätzen kann, übernimmt bei größeren Einsätzen die Koordination. Es behält die Gesamtlage im Blick und disponiert die Teams zu ihren jeweiligen Einsatzorten. Selten wird dieses durch eine stationäre Einsatzkoordination außerhalb des Geschehens unterstützt.

Jedes unserer Teams aus normalerweise zwei bis drei Einsatzkräften verfügt über eine medizinische und eine einsatztaktische Teamleitung, die entweder durch ein und die selbe oder verschiedene Personen ausgeübt werden kann. Zur Wahrnehmung dieser verantwortungsvollen Aufgaben befähigen spezielle interne Weiterbildungen, die unsere Einsatzkräfte im Rahmen ihrer modularen Grundausbildung aufbauend auf einer medizinischen Mindestqualifikation erhalten.


Unser multimodales Sanitätsdienstkonzept

Als rein ehrenamtlich arbeitende, spendenfinanzierte Organisation sind unsere Ressourcen begrenzt. Daher wird es niemals möglich sein, dass unsere Organisation zum einen alle stattfindenden Demonstrationen und Kundgebungen absichert, zum anderen bei größeren Verletztenzahlen oder weitläufigem Aktionsgebiet die Versorgung alleine komplett übernehmen kann. Ein sinnvolles Sanitätsdienstkonzept für Versammlungen muss daher immer auch eine Hilfe zur Selbsthilfe der Versammlungsteilnehmer*innen umfassen, die wir mit Empfehlungen zur Ersten Hilfe und Workshops umzusetzen versuchen. Wir empfehlen jeder Bezugsgruppe (Gruppe von 2 bis 9 Personen, die zusammen bleiben und aufeinander aufpassen) das Mitführen von Erste-Hilfe-Material für die Versorgung kleinerer Verletzungen und von Wasser zum Spülen nach Einsatz von Pfefferspray. So ist es möglich, dass sich die Aktivist*innen auch dann gegenseitig helfen können, wenn keine Demosanitäter*innen in der Nähe sind.

Proteste gegen rechten Aufmarsch Mainz 2022

(Bildquelle: Fabian Janssen)

Unsere Sanitätskräfte können sich dann bei größeren Verletztenzahlen auf die Koordination der Hilfe und die Versorgung schwerer verletzter Personen konzentrieren. Dabei sind wir immer wieder aufs Neue von der großen Hilfsbereitschaft und Solidarität unter den Versammlungsteilnehmer*innen begeistert, die dieses multimodale Konzept eines professionellen Sanitätsdienstes im Zusammenspiel mit einer solidarischen Selbsthilfe der Versammlungsteilnehmer*innen zur Realität werden lässt.


Unsere Ausrüstung im Einsatz auf Demonstrationen

Im Gegensatz zu den klassischerweise Fahrzeug basierten Konzepten von Rettungsdiensten, Sanitätsdiensten und Katastrophenschutz sind unsere Einsatzkräfte in aller Regel als Fußteams am Rande der Versammlungen unterwegs und müssen daher ihre gesamte Ausrüstung mit sich tragen. Hintergrund ist, dass oft nur zu Fuß ein Durchkommen durch Versammlungen und an Absperrungen vorbei möglich ist. Nur selten kommen bei speziellen Einsatzkonzepten Teams auf Fahrrädern oder Kraftfahrzeugen zum Einsatz.

Kurdische Demonstration Frankfurt a.M. 2018

(Bildquelle: Jens Volle, Kontext:Wochenzeitung)

Die Besonderheiten im Versammlungskontext stellen hohe Ansprüche an die Ausstattung der Einsatzkräfte. Da in unübersichtlichen Einsatzlagen und bei höheren Verletztenzahlen nicht immer eine ungewollte Teamtrennung verhindert werden kann, müssen alle Teammitglieder mit ausreichend medizinischem Material für eine Basisversorgung ausgestattet sein. Außerdem darf trotz lauter Umgebung weder die Kommunikation im Team noch zwischen den Teams abreißen. Deshalb ist jede Einsatzkraft mit einem eigenen Funkgerät ausgestattet und trägt zusätzlich als Redundanz ein Mobiltelefon bei sich.

“Am Equipment darf es nicht scheitern!”

(Christoph Hoffmann – Gründer der Sanitätsgruppe Süd-West e.V.)

Die Einsatzkleidung und persönliche Schutzausrüstung entspricht weitestgehend der des öffentlichen Rettungsdienstes oder anderer Hilfsorganisationen. Die leuchtend roten Einsatzjacken (mit Rückenschild “Demosanitäter” bzw. “Demosanitäterin”) und -hosen ermöglichen, dass unsere Einsatzkräfte auch in unübersichtlichen Situationen oder über größere Entfernungen als Sanitätskräfte erkannt werden. Helme mit Visieren und Schutzbrillen schützen z.B. vor fliegenden Gegenständen oder einem zu weit ausgeholten Pfefferspraystrahl, sollen zur Deeskalation aber nur bei Notwendigkeit getragen werden. Auch zur Ausrüstung gehören u.a. Arbeitshandschuhe und Mützen für Sommer und Winter.


Unser Rettungsrucksack-Konzept

Proteste gegen PEGIDA in Stuttgart 2015

(Von links nach rechts: ALS-, SAN-, XLS- & BLS-Rucksack)

Verschiedene standardisierte und möglichst ähnlich zueinander aufgebaute Rucksacktypen sind jeweils auf verschiedene Ausbildungsstufen der Helfer*innen abgestimmt. Sie ermöglichen alle eine autarke medizinische Basisversorgung, sowie zusätzlich das Mitführen weiterer Materialien (z.B. Sauerstoff, i.v.-Zugang etc.) je nach gewünschtem Leistungsspektrum. Die Devise lautet dabei: „Am Material darf es nicht scheitern!“ Ziel ist es auch bei einem erhöhten Patient*innenenaufkommen und starken, unter Umständen lebensbedrohlichen Verletzungen, lange Zeit mit dem mitgeführten Material auszukommen.

Gerade bei größeren Protesten kann der öffentliche Rettungsdienst an seine Kapazitätsgrenzen stoßen oder hat es schwer zu den Patient*innen vorzudringen, sodass ggf. lange Wartezeiten bis zu einer Übergabe überbrückt werden müssen. Im Folgenden stellen wir kurz unsere Rucksacktypen vor:

  • Die SAN-Rucksäcke sind mit ca. 15kg die leichteste Rucksack-Variante. Sie ermöglichen eine autarke Basisversorgung von Verletzten. Dazu beinhalten sie eine medizinische Grundausstattung mit nicht-invasivem Material und orientieren sich an der DIN 13155. Zusätzlich sind für Demonstrationen typischerweise notwendige Materialien wie z.B. Augenspülflaschen verlastet. Auf Sauerstoffgerät und invasives Material wird zugunsten der Gewichtsreduktion und Kompaktheit verzichtet.
  • BLS-Rucksäcke umfassen mit ca. 20kg die gesamte Bandbreite des nicht-invasiven Materials. Neben der Ausstattung des SAN-Rucksacks ist auch ein Sauerstoffgerät und größere Mengen Verbrauchsmaterial verlastet. Auf nicht-invasivem Niveau können mit ihnen alle notwendigen Maßnahmen durchgeführt werden.
  • Bei den ca. 25kg wiegenden ALS-Rucksäcken wird die Ausstattung der BLS-Rucksäcke um invasives Material (z.B. i.v.-Zugang, Infusionen, Medikamente, endotracheale Intubation) erweitert. Diese Rucksäcke orientieren sich an der DIN 13232 A+B und dienen dem medizinisch höher qualifizierten Personal als Basis ihrer Arbeit.
  • Eine zusätzliche Erweiterung des invasiven Materials und der vorgehaltenen Mengen an Verbrauchsmaterial im Allgemeinen findet bei den XLS-Rucksäcken (Extra-Large-ALS) statt. Sie besitzen die größtmögliche medizinische Schlagkraft und auch minimales Material zur Versorgung von Kindern (Teile DIN 13232 C) , sind durch ihr Gewicht von 30kg allerdings verhältnismäßig schwerfällig. Bei Großeinsätzen kann auf diese Weise medizinisch hoch qualifiziertes Personal mit maximaler Ausstattung nachgefordert werden.
  • ELS-Rucksäcke (Ergänzungs-Rucksack ALS) sollen die Vorteile aus Gewichtsreduktion und dem Mitführen von invasivem Material vereinen. Mit ca. 17kg sind sie fast so leicht wie die SAN-Rucksäcke. Ausgestattet sind sie mit der gleichen Grundausstattung wie die SAN-Rucksäcke, beinhalten allerdings noch invasives Material. Gemeinsam mit einem BLS-Rucksack wird so bei im Team aufgeteiltem Gewicht trotzdem eine weitreichende medizinische Versorgung ermöglicht.
  • Die PSNV-Rucksäcke beinhalten mit ca. 7kg die Ausstattung unseres Teams für Psychosoziale Notfallversorgung. Neben speziellen Materialien für ihre Tätigkeit beinhalten sie auch eine Basisausstattung zum Leisten Erster Hilfe in medizinischen Notsituationen.

Klimaproteste & Klimacamp Kesselbambule Stuttgart 2022

(Bildquelle: Aktionsbündnis Kesselbambule)

Jedes unserer Teams ist mindestens mit einem BLS, ALS oder XLS-Rucksack ausgestattet. Weitere Teammitglieder tragen je nach Situation weitere dieser schweren Rucksäcke-Typen oder die leichteren Rucksacktypen SAN und ELS. Die PSNV-Rucksäcke werden von unsere Kräften der Psychosozialen Notfallversorgung getragen, die in der Regel als drittes Teammitglied im Einsatz sind. Für spezielle Einsatzsituationen stehen weitere Materialien, z.B. Erste-Hilfe-Taschen, die im Rahmen des multimodalen Sanitätsdienstkonzeptes an Veranstalter*innen ausgehändigt werden können, zur Verfügung. Um diese Ausrüstung zu unterhalten sind wir auf regelmäßig auf Spenden angewiesen!