Hungerstreik

Flüchtlings-Hungerstreik in Stuttgart 2013

Der Hungerstreik stellt eine passive Form des politischen Widerstands dar. Durch Verweigerung der Nahrungsaufnahme wird Druck aufgebaut um persönliche und politische Forderungen durchzusetzen. Dabei wird die Aktionsform vor allem von jenen gewählt, die keine andere Möglichkeit mehr sehen, sich Gehör zu verschaffen.

Hungerstreikende wollen in der Regel nicht sterben oder gesundheitliche Schäden erleiden, gehen dieses Risiko allerdings bewusst ein. Daher ist eine medizinische Betreuung unerlässlich, die in ihrer Komplexität nicht zu unterschätzen ist. Außerdem sollte die Wahl dieser Aktionsform gut reflektiert werden.

Der folgende Artikel soll vor allem Laien grundlegende Informationen zur medizinischen Betreuung von Hungerstreikenden an die Hand geben. Ärztinnen und Ärzte, sowie medizinisches Fachpersonal, welches sich an der Betreuung von Hungerstreikenden beteiligt, verweisen wir auf die Deklaration von Malta des Weltärztebundes (1991) und auf den Reader des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (2014) zu diesem Thema.


Vor dem Hungerstreik

Die Umstände bei jedem Hungerstreik sind anders. Viele Situationen werden sich plötzlich entwickeln. Entscheidungen müssen oft unter Zeitdruck getroffen werden. Trotzdem oder gerade deswegen ist eine gute Vorbereitung, soweit die Umstände diese zulassen, entscheidend für den Erfolg der Aktion und die Sicherheit der Teilnehmer*innen. Gerade der medizinischen Betreuung kommt dabei eine besonders wichtige Rolle zu. Deshalb sollten Aktivist*innen, die einen Hungerstreik planen, sich bereits frühzeitig medizinische Unterstützung suchen und diese in den Planungsprozess mit einbeziehen. So können frühzeitig wichtige Grundsteine gelegt und schon vor der Aktion ein Vertrauensverhältnis zwischen Hungerstreikenden und Mediziner*innen aufgebaut werden. Solidarische Mediziner*innen findet ihr unter anderem bei Demosanitätsgruppen, dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte, sowie weiteren politischen Zusammenschlüssen von Ärzt*innen und medizinischem Fachpersonal.

Vor dem Hungerstreik gibt es medizinisch Einiges zu tun. Solidarische Ärzt*innen, die auch während des Hungerstreiks die Betreuung übernehmen, sollten mit jeder*m Hungerstreikenden ein vertrauliches Gespräch führen. Dabei sollten Vorerkrankungen und eingenommene Medikamente ebenso thematisiert werden wie die Wünsche der Hungerstreikenden in verschiedenen Situationen. Leitfragen sind u.a.: In welchen Situationen möchte der*die Hungerstreikende den Streik beenden? Was soll geschehen, wenn er*sie bewusstlos wird oder nicht mehr zurechnungsfähig ist? Gibt es Vertrauenspersonen, die in so einem Fall Entscheidungen im Namen der*des Hungerstreikenden treffen dürfen? Wer darf wann über was informiert werden? Ebenso wichtig ist eine Aufklärung jedes*r Hungerstreikenden über die individuellen Risiken und allgemeinen gesundheitlichen Folgen eines Hungerstreiks. Dazu gehört auch eine Beratung darüber, wie schwere gesundheitliche Schäden während des Streiks zumindest hinausgezögert werden können, sowie eine Aufklärung über die Problematiken nach Abbruch des Hungerstreiks. Außerdem muss vor dem Hungerstreik sicher gestellt werden, dass keine*r der Hungerstreikenden psychisch in der Weise erkrankt ist, dass er*sie die Entscheidung zum Hungerstreik selbst nicht treffen kann oder selbstmordgefährdet ist. Bei entsprechenden Erkrankungen ist statt dem Hungerstreik die psychische Erkrankung zu behandeln. Das gesamte Gespräch, insbesondere die Wünsche des*der Hungerstreikenden für sich selbst und die Aufklärung sollten ausführlich schriftlich dokumentiert und von beiden Seiten unterschrieben werden. Diese Dokumentation stellt später die Grundlage dar, auf der sich solidarische Mediziner*innen für den Willen der Hungerstreikenden einsetzen können.


Während des Hungerstreiks

Während des Hungerstreiks ist eine medizinische Betreuung, besser ärztliche Betreuung, rund um die Uhr mit regelmäßigen Visiten und Untersuchungen anzustreben. Nur so ist zu gewährleisten, dass bei Notfällen schnell Hilfe zur Stelle ist und die Versorgung im Sinne der betroffenen Personen stattfindet. Aufgrund der Umstände ist dies allerdings oft nicht realistisch umsetzbar, man sollte jedoch versuchen eine möglichst umfassende medizinische Betreuung sicher zustellen.

Grundsätzlich gilt für alle medizinische Behandlungen das Prinzip des “Informed Consent”, bei dem nach einem Aufklärungsgespräch der*die Patient*in selbst entscheidet, welche Maßnahmen durchgeführt werden und welche nicht. Zwangsbehandlungen, wie sie immer wieder im Zusammenhang mit Hungerstreiks diskutiert und weltweit auch durchgeführt werden, widersprechen der ärztlichen Ethik (siehe hierzu Deklaration von Malta des Weltärztebundes von 1991) und sind in Deutschland klar rechtswidrig. Probleme ergeben sich dann, wenn der*die Patient*in ihren*seinen Willen nicht mehr zuverlässig äußern kann. In diesem Fall handeln Mediziner*innen nach dem mutmaßlichen Willen der betroffenen Person und entscheiden sich i.d.R. schon aufgrund der Rechtssicherheit für alle lebensrettende Maßnahmen. Hinzu kommen anderweitige, z.B. politische Interessen, die die Entscheidungsfindungen einseitig zugunsten eines frühen Abbruchs des Hungerstreiks beeinflussen können. Dem kann durch eindeutige, schriftliche fixierte Willensbekundungen entgegen gewirkt werden, die durch solidarische Mediziner*innen durchgesetzt werden können, um das Selbstbestimmungsrecht der Hungerstreikenden zu wahren und ein medizinisches Eingreifen ungeachtet anderer Werte zu verhindern.

Während des Fastens baut der Körper nach und nach seine eigene Substanz ab. Um länger durchhalten zu können, reduziert sich dabei sein Stoffwechselumsatz um bis zu 50%. Blutdruck, Puls und Körpertemperatur nehmen ab. Zunächst werden in den ersten Tagen die Kohlenhydratreserven aufgebraucht, bevor der Körper mehr und mehr auf den Abbau von Fetten und Proteinen umstellt. Folge können u.a. eine Übersäuerung des Blutes, Wasserverlust und -einlagerungen, Muskelschwäche mit Gangunsicherheit und Immunschwäche sein. Die betroffenen Personen können Durchfall, sowie Übelkeit mit Erbrechen entwickeln, frieren leicht und fühlen sich müde und abgeschlagen. Später folgen verschiedene Symptome der Augen (z.B. Doppelbilder sehen) und eine zunehmende Konzentrationsschwäche bis hin zum Verlust des Urteilsvermögens. Spätestens nun befindet sich eine hungerstreikende Person in einem äußerst kritischen Gesundheitszustand, auf den ohne Eingreifen die Bewusstlosigkeit und der Tod folgen. Die Geschwindigkeit des Vorabschreitens dieser Symptome ist individuell sehr unterschiedlich. So kann der Tod bei geschwächten Personen recht früh nach weniger als 3 Wochen auftreten, während andere bis zu 70 Tage überleben können.

Schwangerschaft, hohes Alter, Untergewicht, sowie diverse Vorerkrankungen, wie Krebsleiden, Diabetes mellitus, Magengeschwüre, chronische Herz-, Nieren- und Lebererkrankungen erhöhen dabei das Risiko für ein frühes Auftreten gesundheitsschädlicher und tödlicher Auswirkungen des Hungerstreiks. Auch die Einnahme bestimmter Medikamente, die oft bei den genannten Erkrankungen verabreicht werden, stellen Risikofaktoren dar. Bei Vorliegen entsprechender Erkrankungen sollten diese unbedingt im Beratungsgespräch vor dem Hungerstreik berücksichtigt werden.

Ein leichtes Bewegungstraining sollte während des Fastens durchgeführt werden. Dadurch kann der Abbau von Muskelmasse reduziert werden. Da Hungerstreikende immer anfälliger für Infekte werden, sollten Infektionsschutzmaßnahmen wie Hände waschen und Maske tragen in ihrer Nähe eingehalten werden. Auch die Hungerstreikenden selbst können sich auf die gleiche Weise schützen. Komplikationen können zumindest etwas hinausgezögert werden, indem, trotz des Verzichts auf Nährstoffe, andere notwendige Stoffe weiterhin zugeführt werden. Wichtig ist vor allem eine hohe Flüssigkeitszufuhr. Ergänzt werden können Vitamine und Elektrolyte. Manche Hungerstreikenden nehmen so z.B. Wasser mit Salz, Zucker oder Honig zu sich oder trinken Gemüsebrühe. Es bleibt der*dem Hungerstreikenden überlassen, welche Zusatzstoffe sie*er zu sich nimmt und welche nicht seinem*ihrem Verständnis eines Hungerstreiks entsprechen. Wird auch auf Wasser verzichtet, so wird dies als trockener Hungerstreik bezeichnet, der innerhalb von 3 bis 4 Tagen durch Verdursten zum Tod führt. Zuvor kommt es u.a. zu Sprachstörungen, Schwindel und Kraftlosigkeit.


Die Einzelperson in der Gruppe

Ein Hungerstreik stellt einen massiven Eingriff in die körperliche Gesundheit einer Person dar. Um so wichtiger ist es, dass dieser auf einer vollständig freiwilligen Willensentscheidung beruht. Ebenso muss auch der Beschluss zum Abbruch, zur Fortsetzung oder zur Verschärfung des Hungerstreiks selbstbestimmt erfolgen. Häufig führen jedoch soziale Interaktionen zu Druck auf einzelne Hungerstreikende entgegen ihres eigenen Willens zu handeln. So kann beispielsweise die Dynamik in einer politischen Gruppe dazu führen, dass Einzelne sich gegen ihren Willen an einem Hungerstreik beteiligen um weiter dazu zu gehören. Auf der anderen Seite können z.B. besorgte Angehörige Druck ausüben, den Hungerstreik vorzeitig zu beenden. Auch Vertreter*innen von Behörden werden vermutlich auf ein Ende des Hungerstreiks drängen. Dabei können Zwangslagen sowohl den gesamten Hungerstreik betreffen, als auch Einzelentscheidungen (z.B. Trinke ich Gemüsebrühe während des Hungerstreiks?).

Alle Beteiligten, sowohl Hungerstreikende, als auch Unterstützer*innen müssen sich dieser Gefahr bewusst sein und aktiv an einem Klima arbeiten, in dem jede Person ihre Bedürfnisse frei äußern und verwirklichen kann. So kann z.B. von Anfang an in der Gruppe klargestellt werden, dass sich nicht jede Person am Hungerstreik beteiligen muss, und es genug andere Aufgaben im Umfeld des Hungerstreiks zu erledigen gibt. So kann sich jede Person auf die Weise einbringen, die ihr zusagt. Den betreuenden solidarischen Mediziner*innen kommt während des Hungerstreiks die Rolle zu, nicht selbst Druck auf die Hungerstreikenden auszuüben, sondern bewusst Zwang von verschiedenen Seiten entgegen zu wirken. Dafür bedarf es eines engen Vertrauensverhältnisses auf Augenhöhe. Schwierig wird dies erfahrungsgemäß dann, wenn zusätzlich Sprachbarrieren hinzu kommen und der Wille nur über Dritte erfragt werden kann.


Nach dem Hungerstreik

Grundsätzlich kann ein Hungerstreik auf unterschiedliche Art und Weise enden. Dabei stehen Unterstützer*innen, solidarische Mediziner*innen und die Hungerstreikenden selbst vor eine Vielzahl an Herausforderungen.

Zunächst kann ein*e Hungerstreikende*r selbst für sich die Entscheidung treffen, den Hungerstreik beenden zu wollen, da seine*ihre Forderungen erfüllt wurden oder seine*ihre persönliche Grenze erreicht wurde. In diesem Fall muss ein vorsichtiger, langsamer Kostaufbau über 4 bis 7 Tage hinweg erfolgen, damit sich der Körper wieder an die Nahrung gewöhnen kann. Je nach Zustand der betroffenen Person, sind ggf. eine intensivmedizinische Überwachung, künstliche Ernährung oder Infusionstherapie notwendig. Dabei sollte allen Beteiligten bewusst sein, dass es nach Wiederaufnahme der Nahrungszufuhr zu starken Flüssigkeits- und Elektrolytverschiebungen, sowie hormonellen Fehlregulierungen kommen kann. Dieses potentiell tödliche sogenannte Refeedingsyndrom (RFS) kann u.a. Übelkeit mit Erbrechen, Antriebsschwäche, Atemprobleme, Herzrhythmusstörungen und Bewusstseinsstörungen auslösen. Daher bedarf es bei Auftreten dieser Symptome zwingend einer intensivmedizinischen Behandlung. Risikofaktoren sind u.a. ein Fasten über mehr als 10 Tage bzw. mehr als 5 Tage bei Untergewicht oder vorbestehendem Elektrolytmangel, sowie eine zu schnelle, unvorsichtige Nahrungsaufnahme nach dem Hungerstreik.

Ist die Person nicht mehr bei Bewusstsein oder kann ihren Willen nicht mehr kommunizieren, so befindet sie sich bereits in einer hoch gefährlichen Situation für ihr Leben. In diesem Moment kommt es darauf an, was die Person zuvor schriftlich bei klarem Bewusstsein als ihren Willen fixiert hat. Dies kann bedeuten, dass solidarische Mediziner*innen und Unterstützer*innen in die emotional schwierige Situation geraten, eine Person außerhalb eines klinischen Umfelds in ihrem Sterbeprozess zu begleiten. Ist hingegen verfügt, dass in diesem Fall lebensrettende Maßnahmen durchgeführt werden dürfen oder liegt keine rechtssichere Verfügung vor, so ist der öffentliche Rettungsdienst hinzu zu ziehen, um die Person möglichst schnell in eine intensivmedizinische Betreuung zu überführen.


Keine Gewährleistung für Vollständigkeit und Korrektheit – Stand: 10.10.2021