Zu Verletzungen durch die Tränengase Chlorbenzylidenmalonsäuredinitril (CS) und ω-Chloracetophenon (CN) findet man in den Lehrbüchern für Sanitätskräfte in der Regel nur wenig. Die Polizei nutzt diese Kampfstoffe, vor allem CS-Gas, allerdings immer wieder um Personengruppen auseinander zu treiben. Nicht selten werden CS und CN dabei von den Betroffenen mit Pfefferspray verwechselt. Der Unterschied ist allerdings essentiell für eine erfolgreiche Behandlung.
Verwendung
Proteste gegen G20 Gipfel Hamburg 2017
(Bildquelle: Alfred Denzinger, Beobachter News)
Während Pfefferspray vor allem in großen und kleinen Reizstoffsprühgeräten zur Anwendung kommt, werden die Tränengase CS und CN heutzutage kaum noch auf diese Weise genutzt. Pfefferspray bietet für diese Art der Anwendung deutlich bessere Eigenschaften. Demonstrationsteilnehmer*innen sind allerdings immer wieder in Deutschland mit Tränengas konfrontiert, wenn dieses Wasserwerfern zugesetzt oder in Form von Tränengasgranaten verschossen wird. CS-Gas hat dabei das ältere CN zum größten Teil abgelöst. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass auch CN noch in Einzelfällen zur Anwendung kommt.
Tränengas wird also eher ungezielt genutzt, um größere Personengruppen zu zerstreuen und ganze Straßenzüge freizuräumen, während Pfefferspray deutlich gezielter in Form eines direkten Flüssigkeitsstrahls eingesetzt werden kann. Dabei erscheint Tränengas als weißlicher Rauch mit pfefferartigem Geruch, der z.B. von einer Granate aus aufsteigt. Auch wenn der Begriff „Tränengas“ etwas anderes vermuten lässt, so handelt es sich bei CS und CN nämlich streng genommen nicht um Gase, sondern um Feststoffe, die sich als feine Schwebeteilchen in der Luft verteilen und auf diese Weise ein Aerosol bilden.
Antifaschistische Gegenproteste Leipzig 2015
(Bildquelle: Jens Volle)
Anders als die Nutzung zur Aufstandsbekämpfung im Inland, ist der Einsatz der chemischen Kampfstoffe CS und CN in Kriegsgebieten völkerrechtlich im Sinne des Genfer Protokolls geächtet.
Wirkstoffe
Blockupy bei der EZB Eröffnung in Frankfurt a.M. 2015
(Bildquelle: Jens Volle)
Auch wenn es sich um zwei verschiedene Wirkstoffe handelt, so ähneln sich Chlorbenzylidenmalonsäuredinitril (CS) und ω-Chloracetophenon (CN) in vielen ihrer Eigenschaften, sodass die beiden Tränengase hier gemeinsam besprochen werden. Auf Dibenzoxazepin (CR) gehen wir bewusst nicht näher ein, da dieses Tränengas nicht in Deutschland eingesetzt wird, sondern i.d.R. nur in Großbritannien zum Einsatz kommt.
Sowohl Chlorbenzylidenmalonsäuredinitril (CS), als auch ω-Chloracetophenon (CN) wirken an sogenannten TRPA1-Rezeptorkanälen (Transient Receptor Potential-Ankyrin 1). Diese Ionenkanäle kommen an Nervenfasern vor, die für die Vermittlung von Schmerzen durch Kälte zuständig sind. Außerdem können bestimmte Lebensmittel (Knoblauch, Mehrrettich oder Zimt) in leichter Form diese Nervenfasern erregen, da sie Senföl enthalten, das die Kanäle öffnen kann. Die Tränengase täuschen dem Körper also einen Schmerz durch starke Kälte vor und lösen lokale Entzündungsreaktionen aus, indem die betroffenen Schmerzfasern sogenannte Mediatoren freisetzen. Dabei wirken sie vornehmlich nur an feuchten Körperstellen, vor allem den Schleimhäuten (Mund, Atemwege, Augen, etc,), aber auch dort wo ihr vielleicht viel geschwitzt habt oder euch ein Wasserwerfer nass gemacht hat. Trockene Haut wird dagegen deutlich weniger bis gar nicht gereizt. Das ist darauf zurückzuführen, dass es sich bei Chlorbenzylidenmalonsäuredinitril (CS) und ω-Chloracetophenon (CN) um kristalline Feststoffe handelt, die sich als kleine Schwebeteilchen in der Luft verteilen. Diese Feststoffe benötigen eine Flüssigkeit z.B. Wasser oder noch effektiver eine fettige Lösung, in der sie sich lösen können, um in die Haut einzudringen und an die Schmerzrezeptoren zu gelangen. Darin unterscheiden sich die Tränengase in der heutigen Anwendung von Pfefferspray, dessen Wirkstoff in einer Flüssigkeit gelöst auf der Haut auftrifft und so auch an trockenen Körperstellen wirken kann.
Die Wirkstoffe der Tränengase sind nur schwer in Wasser und vornehmlich in Fett löslich, sodass sie sich bei Zusetzung in Wasserwerfern schnell verflüchtigen und die umgebende Luft kontaminieren. In Verbindung mit Luft können außerdem explosionsfähige Gemische entstehen. Verbrennen Tränengase oder werden sie stark erhitzt, so können u.a. nitrose Gase entstehen.
Symptome
Akademisch werden Kampfstoffe u.a. in Augenreizstoffe, wie die hier behandelten Tränengase, Nasen-Rachenreizstoffe und Lungenkampfstoffe unterschieden. Hintergrund sind die vornehmlichen Wirkorte der verschiedenen Kampfstoffe und die daraus resultierenden Symptome. Auch wenn diese Einteilung durchaus ihre Berechtigung hat, so muss sich klar von der Vorstellung verabschiedet werden, dass Tränengase ausschließlich an den Augen wirken. Entsprechend ist auch die Klassifikation als nicht-tödliche Waffen sehr kritisch zu sehen.
Hauptsymptom von CS und CN sind eine starke Reizung der Augen mit sofortigem Tränen, sowie starker Husten. Hinzu kommt ein Brennen aller betroffenen Schleimhäute mit verstärkter Sekretion (z.B. Nasenfluss). CS und CN können Übelkeit mit Erbrechen verursachen. Seltener kommt es zu Hautrötungen und -jucken. In größeren Mengen eingeatmet können Tränengase Gleichgewichts- und Orientierungsverlust, Bewusstlosigkeit und Lungenschäden, insbesondere Lungenödeme auslösen. Die Exposition mit Tränengas kann entsprechend in Einzelfällen tödlich verlaufen. Werden Tränengase in großer Menge oder aus nächster Nähe, z.B. mit Reizstoffsprühgeräten, eingesetzt, so können durch die Kristalle und den hohen Druck mechanische Schäden an Augen und Haut hervorgerufen werden, die teilweise narbig abheilen. Darüber hinaus stehen Tränengase im Verdacht vieler weiterer Nebenwirkungen, wie bleibender Menstruationsveränderungen und Veränderungen des Erbguts (sogenannte klastogene Wirkung in vitro, bisher aber keine bestätigten Fehlgeburten bekannt). Das häufig für CS-Gas verwendete Lösungsmittel Methylisobutylketon (MIBK) ist nachweislich krebserregend und reizt selbst Augen und Atemwege.
Die ausgelösten Symptome durch Tränengase wirken auf die Betroffenen höchst gefährlich und lösen oft Panikanfälle aus. Unter optimalen Bedingungen (keine weitere Exposition, gute Lüftung, keine Feuchtigkeit, etc.) können die Symptome bereits nach wenigen Minuten stark nachlassen, meist klingen sie innerhalb weniger Stunden vollständig ab. Atemprobleme und Symptome des Magen-Darm-Trakts können teilweise aber auch über Monate bestehen bleiben. Ob und wie lange Symptome auftreten hängt nicht zuletzt von der Konzentration der einwirkenden Stoffe in der Luft ab. Bei niedrigen Konzentrationen reagieren viele Menschen auch gar nicht auf Tränengas, andere allerdings bereits stark.
Behandlung
Wie bei Pfefferspray gibt es auch bei den Tränengasen diverse Gerüchte, welche „Hausmittel“ die ultimative Wirkung bei der Behandlung von Betroffenen haben sollen. Wir möchten an dieser Stelle explizit davon abraten diese „Hausmittel“ anzuwenden. Sie haben in der Regel keinen nachweislichen Effekt (abgesehen vom Plazeboeffekt), können allerdings oft selbst schädigend wirken. Wir werden hier absichtlich nicht näher auf einzelne „Hausmittel“ eingehen, um diese Gerüchte nicht selbst weiter zu verbreiten. Auch Medikamente sollten nur in Einzelfällen und nach Indikationsstellung durch gut ausgebildetes Fachpersonal angewendet werden.
Wir beobachten oft, dass Menschen bei der ersten Erfahrung mit Pfefferspray psychisch deutlich heftiger reagieren, als bei weiteren Einwirkungen. Ähnlich verhält es sich bei Tränengasen. Betroffene sollten sich bewusst machen, dass Panikattacken ein entscheidendes Symptom von CS und CN sind, dass sich durch sie selbst beeinflussen lässt. Daher sollten sie sich mental auf die zu erwartenden Symptome einstellen und unbedingt Ruhe bewahren. Ja, leichter gesagt als getan, aber zumindest versuchen sollte man es. Erst-Helfer*innen können durch ihre Zuwendung zur Beruhigung beitragen, sollten aber zum Eigenschutz auf Körperkontakt möglichst verzichten. Entscheidend ist das möglichst schnelle Verlassen der kontaminierten Umgebung. Behandlungsmaßnahmen sollten nicht dort erfolgen, wo Tränengas, auch in geringen Konzentrationen, noch in der Luft ist. Außerdem sollten Betroffene sich nicht ins Gesicht fassen, um den feinpudrigen Wirkstoff nicht weiter zu verteilen.
Auch wenn oft gegenteilig beschrieben: Auf keinen Fall mit Wasser spülen! Wie unter „Wirkstoffe“ bereits ausgeführt, werden die Tränengase erst durch Flüssigkeiten aktiviert. Der erste Reflex mit Wasser gegen das Brennen anzuspülen, wie man es vom Pfefferspray kennt, ist daher falsch, verhindert eine effektive Dekontamination durch Trocknen und verschlimmert die Situation, indem weitere Körperstellen mit Wasser benetzt werden und Wirkstoff nicht selten zu den Schleimhäuten hin gespült wird, der vorher keinerlei Wirkung auslösen konnte. Einzige Ausnahme stellt hier das gezielte Spülen bereits feuchter Schleimhautbereiche dar, die aufgrund der Körperfunktion (Sekretion von Speichel und Tränen) nicht vollständig trocken werden können: Augen und Mund-Rachen-Raum. Dabei muss penibel darauf geachtet werden, dass keinerlei andere Körperstellen benetzt werden. Für die Augen sind dazu professionelle pneumatische Augenspülflaschen, die dicht auf das betroffene Auge aufgesetzt werden, während sich der*die Patient*in nach vorne beugt (Achtung! Diese Augenspülflasche ist dann kontaminiert und darf nicht bei weiteren Menschen benutzt werden!). Alternativ können bei geringer Kontamination kleine NaCL-Plastikampullen genutzt werden, mit den Flüssigkeit in das Auge geträufelt wird. Der Mund-Rachen-Raum kann durch Gurgeln von Wasser mit anschließendem Ausspucken gespült werden. Im Zweifel ist gerade für Laien ohne geeignetes Material lieber auf eine Spülung zu verzichten, da diese unsachgemäß durchgeführt mehr verschlimmert als verbessert.
Zur vorläufigen Dekontamination sollte ein gut belüfteter, möglichst windiger Bereich aufgesucht werden. Stark kontaminierte Kleidung sollte entfernt und die restlichen Klamotten und die Haut trocknen gelassen werden, besonders wenn zuvor irrtümlicher Weise großzügig gespült wurde. Dadurch ist ein Abblättern und Wegwehen des pulverförmigen Wirkstoffs möglich, das durch in den Wind stellen, Luft zu Fächeln und Bewegung unterstützt werden kann. Erst-Helfer*innen sollten auch hier auf ihren Eigenschutz und entsprechend die Windrichtung achten bzw. beim Abschütteln des trockenen Wirkstoffs Abstand halten.
Daheim sollten alle Klamotten vorsichtig und mit möglichst wenig Hautkontakt ausgezogen werden. Dabei ist darauf zu achten, dass diese nicht die Wohnung kontaminieren (ggf. auf der Terrasse entkleiden) und sofort in der Wäsche landen. Anschließend sollten zunächst die Hände gut mit Seife gewaschen werden, gefolgt von einer Dusche mit viel Wasser und Shampoo, bei der von oben nach unten der gesamte Körper gründlich abgewaschen wird um Reste des Kampfstoffs vollständig zu entfernen.
Komplikationen
Gerade bei vorerkrankten Personen kann die Einwirkung von Tränengas diverse schwere Komplikationen, wie beispielsweise einen Asthmaanfall, hervorrufen. Abhängig von der Konzentration sind außerdem Verwirrtheitszustände, Bewusstlosigkeit und schweren Lungenschäden, beispielsweise Lungenödeme möglich. Eine tödliche Wirkung kann in Einzelfällen vorkommen.
Diese Krankheitsbilder werden unabhängig von der Reizstoffeinwirkung grundsätzlich auf die gleiche Weise behandelt wie sonst auch. Informationen zur Ersten Hilfe bei verschiedenen Krankheitsbildern findet ihr auf einer separaten Seite. Fachkräften legen wir die einschlägige Literatur zur Notfallmedizin nahe. Der Eigenschutz sollte auch bei schweren Notfällen nicht vernachlässigt werden.
Schutzausrüstung & Prävention
Um sich als Demonstrant*in optimal gegen Tränengas mit versammlungsrechtlich nicht verbotener Kleidung zu schützen, empfehlen wir das Tragen langer, wasserabweisender Kleidung und einer Kopfbedeckung. Lange Haare sollten zusammengebunden werden. Kontaktlinsen sollten grundsätzlich nicht getragen und gegen eine Brille eingetauscht werden, die auch für nicht Brillenträger empfehlenswert ist. Eine Bedeckung von Mund und Nase kann ebenfalls hilfreich sein, kann aber zur Unterstellung einer Vermummung zur Identitätsverschleierung führen, die gegen das Versammlungsgesetz verstößt.
Einsatzkräfte, die sich z.B. zur Personenrettung längere Zeit in Tränengaswolken bewegen müssen, benötigen zum Eigenschutz möglichst geschlossene und wasserundurchlässige Einsatzkleidung, sowie eine Atemschutzvollmaske (schützt auch die Augen) mit geeignetem Atemschutzfilter (umluftabhängiger Atemschutz). Für die Verwendung ist in Deutschland eine Tauglichkeitsuntersuchung einschließlich arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchung vorgeschrieben (G26).
Für die schnelle Personenrettung aus kontaminiertem Gebiet oder den raschen Rückzug ist unserer Erfahrung nach für Einsatzkräfte die Verwendung von FFP2 oder FFP3-Masken in Kombination mit Schutzbrillen meistens ausreichend. Diese bieten keinen vollständigen Schutz vor dem Kampfstoff, können die Konzentration auf den Schleimhäuten allerdings soweit reduzieren, dass ein kurzzeitiger Kontakt zu Tränengas möglich wird um beispielsweise ein verletzte Person aus dem Gefahrengebiet zu evakuieren oder einfach selbst das Gebiet sicher zu verlassen. Ob dies wirklich im Einzelfall ausreicht, hängt natürlich auch von der Konzentration des Tränengases in der Luft ab.
Zum Schutz vor weiteren abgeschossenen Tränengasgranaten sollten Einsatzkräfte unbedingt einen Helm tragen.
Hinweis: Während die Nutzung von Schutzausrüstung für Rettungskräfte rechtlich bei Versammlungen erlaubt ist, ist dies Versammlungsteilnehmer*innen i.d.R. untersagt. Entsprechende Gegenstände gelten laut der Versammlungsgesetze normalerweise als „Schutzbewaffnung“.
Keine Gewährleistung für Vollständigkeit und Korrektheit – Stand: 21.08.2021